Alfred R. Zeisel  

André - Die Tribulationen eines Wieners in Wien

(c) Alfred Zeisel

 

Ein folgenschwerer Wutanfall lässt André nach dem Grund dafür in seiner Vergangenheit suchen.
Der Leser erlebt hautnah die diversen Stadien in Andrés Leben. Stets auf der Suche nach einer Frau fürs Leben und seinem wahren Ich, entwickelt sich André vom unterdrückten und von Kindheitstraumen geprägten naiven Aussteiger zum Schriftsteller, der verschiedene Schreibstile entdeckt und weiterentwickelt, jedoch erfolglos bleibt.
Erst als Dealer, der erfolgreich fast ganz Wien beliefert, hat er genügend Geld, um sorglos leben zu können. Indem er das Leben eines „Stars“ lebt, schöne Erlebnisse mit Frauen hat, entdeckt er auch seine verdrängte feminine Seite, die ihn erst wirklich zum Mann macht.
Doch das Dealen hat auch eine dunkle und gefährliche Seite, André gerät in einige lebensbedrohliche Situationen, bis er schließlich im Jetzt seinem gefährlichsten Feind gegenübersteht.
Der Genre-Mix aus Crime-, Detective-, Action- und Mythos-Elementen wird auf mehreren Erzählebenen in verschiedenen Erzählstilen wiedergegeben.

 Ein Bildungsroman



Auszüge aus den Kapiteln

Wie ich mich als Zuhälter versuche

Meine erste Liebe und eine Eruption am Fuße des Vesuvs


Wie ich mich als Zuhälter versuche

Vorgeschichte:

1971, Kaisersteinbruch bei Wien, Kaserne, Wehrdienst

André, der ständig auf der Suche nach einem ‚Ich’ war, sah die Gelegenheit zu einem neuen starken ‚Ich’ in der Rolle als Zuhälter, da ihm sein Freund beim Bundesheer, der Zuhälter Franzi, enorm imponierte.

Franzi wiederum hatte entdeckt, dass sein Kamerad André recht gut schreiben konnte. Und so gab er ihm den Auftrag, seine Memoiren zu schreiben, die er recht gut bezahlte, da er ja ein Zuhälter war. Außerdem durfte er jede Woche über seine Mitzi ‚drüber’...

Nach ein paar Wochen war André mit den Memoiren fertig, die dem Franzi recht gut gefielen...



...

>[Franzi und ich] sprachen auch irgendwann die Vermarktung an: Mit einem Handschlag übertrug er mir alle Rechte. Hauptsache, der Roman war geschrieben. Während also das Ende unserer Zusammenarbeit immer näher rückte, spukte die Romanfigur des Franzi weiter in meinem Kopf herum. In dieser Romanwelt war ich der Franzi gewesen, der die Frauen nahm, wie er sie brauchte. Diese Identität begeisterte mich. Und plötzlich hatte ich die Idee, selbst Zuhälter zu werden. Es war ein neues Ich. Ich wusste bloß nicht, wie und wo man eine Frau aufreißt. Wohl saß mir das Desaster von Rom noch in den Gliedern, aber ich war inzwischen auch härter geworden, dachte ich, hart genug, um eine Frau eiskalt aufzugabeln und abzuführen. Und dann betrachtete ich diese Idee auch als Schriftsteller: Es waren Erfahrungen und damit wirklicher Stoff zum Schreiben. Denn ich hatte gemerkt, dass mir die persönlichen Erfahrungen und auch die Menschenkenntnis fehlten, die zu so einer Persönlichkeit gehörten. Ich kannte nur die Themen "Klauen", "Bundesheer", "Unterdrückung", "Verdroschen werden" und "Scheiß-Eltern". Ich kannte nicht die Macht über Frauen, ich kannte nicht die Gefühle des locker und schnell verdienten Geldes und des unbeschwerten Lebens, die zu so einem Ich gehörten. Aber mit einem Mädchen, das für mich auf den Strich ging, würde ich alles darüber kennen lernen. Und letztlich würden meine Geschichten davon profitieren.

Als ich also am nächsten Samstag mit dem Franzi nach Wien fuhr, verkündete ich ihm stolz und voller Erwartungen diese Idee.

"Hast einen Pascher [bist du blöd]?", fragte er mich hart. "Du bist doch nicht der Typ für einen Zuhälter. Du kannst vielleicht darüber schreiben, aber a Alte in die Hacke schicken, vergiss das ganz schnell, Alter!"

Da ich ziemlich geknickt geschaut haben musste, gab er nach: "Jetzt scheiß dich nicht an, Alter. Also, erst einmal brauchst eine Alte, die auf dich steht. Und wenn sie nicht auf dich steht, dann musst sie halt grün und blau schlagen. Du musst ihr klar machen, dass du der einzige bist, der sich um sie kümmern kann. Deswegen ist es schon besser, du suchst dir eine Schiache [Hässliche], weil da ist es leichter. Auf keinen Fall darfst du dich verlieben. Schon deshalb eine Schiache. Schlag sie ohne Grund, dann besorg's ihr! Dann droh ihr. Dann hast du sie! Wenn'st aber einen feschen Hasen hast, verknallst dich womöglich. Ganz sicher aber wirst einen Wickl [Streit] mit den anderen Strizzis kriegen. Also vergiss die Feschen. Zumindest am Anfang. Wenn'st einen Hasen aufreißt, musst ihn angsoffen [betrunken] machen. Am besten mit Wodka, auf Whiskey oder Rum speiben [kotzen] sie sich an. Auf Wodka merken sie gar nicht, dass sie 'zu' sind. Da denken sie, sie sind gut. Kapiert?"

Mir war klar, dass es doch nicht so leicht war, einen Hasen in die "Hacke" zu schicken. Aber vielleicht ging's auch ohne Schläge.

"Und wo kann man solche Hasen aufreißen?", wollte ich wissen.

"Im Prater. Da sind sie am Wochenende. Die sind aus dem Burgenland, aus Wiener Neustadt oder so. Vom Land halt. Vielleicht hast ein Massel!"

Was aber, wenn mir ein anderer Zuhälter in die Quere kam?

"Dem musst gleich in die Eier treten. Nicht viel denken, gleich voll in die Eier!"

Das hörte sich auch nicht so einfach an. Aber ich tat so, als ob es meine zweite Natur wäre, Hasen in die Hacke zu schicken und Zuhältern in die Eier zu treten.

Derart gut beraten ging ich am frühen Nachmittag in den Wiener Prater, dem berühmten Wiener Vergnügungsviertel, in dem auch ein Strich war. Ich ging von einem Lokal zum anderen, von einer Flipperhalle zur nächsten, auf der Suche nach einem neuen Mädchen vom Land. Ich fragte mich, wie Mädchen vom Land aussahen. Dann kam mir die Idee: Wahrscheinlich standen oder saßen sie alleine herum.

Nach langem Suchen und Beobachten landete ich in einem kleinen Lokal, etwas abseits des Pratertreibens. Nachdem ich ein Bier bestellt hatte, fiel mir eine Schwarzhaarige auf: Sie war attraktiv, die engen Jeans betonten makellose Taille, gewölbten Venushügel, schlanke Beine. Sie hing an einem Flipper herum und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Sie schien alleine zu sein. Die war richtig, dachte ich, die hängt nur so herum, mal sehen. Die Warnung Franzis, keinen hübschen Hasen aufzureißen, die hatte ich bei ihrem Anblick vergessen.

Als ich länger zu ihr hinüberblickte, machte sie mir schöne Augen. Ich bekam leichte Angst, jetzt ging's los! Ich ging zum Flipper, baute mich vor ihr auf und würgte ein "Darf ich dich auf einen Wodka einladen?" aus mir heraus.

Ohne zu zögern sagte sie: "Nein, aber auf eine 'Cola mit'!"

Ich bestellte ihr eine Cola mit Rum. Ich war erstaunt, dass sie so offen war und sich überhaupt nicht zierte. War ich wirklich so gut? Wir setzten uns an einen freien Tisch und redeten Belangloses. Ihr Wienerisch hatte einen harten Akzent. Ich erfuhr, dass sie Jugoslawin war, eine kranke Mutter und fünf Geschwister hatte, und dass ihr Leben eine einzige Katastrophe war. Die war richtig! Die war nicht nur vom Land, die war gleich aus dem Ausland. Die war goldrichtig!

Ich fragte mich, was ich als nächstes tun sollte. Ihr gleich jetzt eine scheuern? Würden daraufhin nicht die anderen Leute etwas gegen mich unternehmen? Ich hätte den Franzi doch noch mehr befragen sollen. Auch konnte ich nicht mehr klar denken, denn eigentlich war ich schon ihrem weiblichen Charme erlegen. Mich beschäftigte nur mehr ein Gedanke: Wohin konnte ich mit ihr pudern gehen? Wo war die nächste Telefonzelle?

"Wüst pudern?", fragte sie mich frei heraus.

Ich erschrak und schluckte so heftig, dass ich mich schämte. Am liebsten hätte ich "nein" gesagt und wäre gegangen. Nicht sie brauchte einen Wodka, ich brauchte einen!

"Für Hundert besorg i's dir!", sagte sie dann, "i bin sehr guat."

Ich musste richtig doof dreingeschaut haben, denn sie blickte mich ziemlich erstaunt an.

"Eigentlich wollte ich Geld von dir haben!", erklärte ich ihr, etwas kleinlaut.

Jetzt war es an ihr, dumm zu schauen: "Hast an Hammer [bist du blöd]?"

"Wieso einen Hammer?", fragte ich verwirrt.

Irgendetwas lief hier schief. Blitzschnell checkte ich in meinem Geist Franzis Ratschläge durch und verglich sie mit meinem Tun. Doch bevor ich noch zu einem Ergebnis kommen konnte, drang von rechts oben eine harte Stimme auf mich ein.

"Gibt's hier irgendan [irgendeinen] Zores?"

Ein junger Schlägertyp stand jetzt an unserem Tisch. Er sah aus wie jemand, der wenig redete, noch weniger dachte, aber besonders schnell zuschlug. Seine Augen wirkten etwas glasig vom Alkohol. Die große Nase war leicht nach links gebogen, das gerötete Gesicht glänzte, das dunkle fettige Haar hing ihm leicht in die Stirn. Er beugte sich zu mir herunter und betrachtete mich stirnrunzelnd: Er schien mich für etwas Minderwertiges, wenn auch Exotisches, zu halten.

"Der Hawara [Typ] wü Geld von mir", sagte ihm die Jugoslawin.

Der Typ konnte entweder mich oder die letzten Worte der Jugoslawin nicht fassen: Er starrte mich jetzt an wie ein echtes Weltwunder.

"I man', i tram mit dir", sagte er schließlich, "du wüst mei Alte pudern und Göd von ihr? Bist hinig im Schädel?"

Er klopfte mir mit der flachen Hand auf die Stirn, dass es laut klatschte; der Schlag brannte grell und mein Kopf federte nach hinten.

Ich bekam Angst. Wo war ich denn hier rein geraten?

Er packte mich an den Haaren und zerrte mich hoch. Die Angst drang bis in beide Schließmuskel, die sich zu lockern drohten.

"Was soll i mit dir machen, ha? Ein Waserl wü mei Alte pudern und dafür Geld ham! Wüst an Köch [Streit], ha? Wüst an Köch?"

Seine letzten Worte waren laut gewesen. Mir fielen urplötzlich nicht nur die billige Schlagermusik auf, sondern auch die grölenden Stimmen und das grobschlächtige Lachen der übrigen Gäste, die jetzt etwas verstummten, um in ein rüdes Gelächter auszubrechen, als sie mich sahen. Denn in meiner gebückten Haltung - der Typ zog mich an den Haaren hinter sich her - musste ich ziemlich lächerlich gewirkt haben. Es waren derbe Männer mit Tätowierungen an den Händen, es waren grell geschminkte Frauen in Miniröcken. Ihr Lachen verletzte obendrein meinen Stolz.

Der Typ ließ meine Haare los, stellte sich vor mir hin und fixierte mich. Er schien keinen Zweifel zu haben, wer der Stärkere war. Ich auch nicht. Dennoch überlegte ich mir kurz, was ich anstellen müsste, um ihm in die Eier zu treten. Ich konnte aber diesen Gedanken nicht zu Ende denken, denn schon schnellte seine Faust in die Richtung meines Kinns. Meine Linke reagierte instinktiv und zuckte nach oben. Sein Schlag aber war nur eine Finte gewesen, ein Vorspiel, ein Kräfte- und Nervenmessen. Für meine ungeübte Linke aber war es drohender Ernst, sie flippte nach oben und traf ihn von unten leicht auf die feuchte Nase.

Er sagte "Au!" und schaute verblüfft, ich sagte "Au, entschuldige, das wollte ich nicht!" und blickte ihn entsetzt an, ihn, der nicht fassen konnte, dass er von mir geschlagen worden war, wenn auch nur leicht. Er starrte mich jetzt nicht nur wie ein Weltwunder an, sondern wie ein Wesen von einem anderen Stern. Die vorgeschobene Kinnlade hing ihm leicht herunter, ich konnte ihn förmlich denken sehen: Es waren riesige, weil wenige Gedankenblöcke, die er mit einander vergleichen wollte, die aber alle nicht zusammenpassten. Also begab er sich wieder auf die Körperebene, packte mich am Hemd knapp unter meinem Hals und zog mich zur Tür.

Wieder dieses derbe Lachen der übrigen. In seinen unberechenbaren Augen blitzte etwas auf, etwas so Gefährliches, dass ich bis tief in mein Herz erschrak, er drehte seine Faust, mein Hemd schnürte mir die ausgetrocknete Kehle zu, mir drückte es das klopfende Blut in den Kopf, mir blieb die knappe Luft weg.

Todesangst.

Jäh durchzuckte mich wieder dieses weiße Licht des blinden Hasses, wie damals in Rom, ein Schrei kam aus meinem Bauch, ein Schrei, fast zu stark für meine Stimmbänder, die zu zerreißen schienen, ich schrie ihn weg, den Typen da vor mir, dann sah ich nichts mehr, dann hörte ich nichts mehr, dann dachte ich nur mehr: Töten, um zu überleben! Töte, töte, töte!

Und während ich noch schreie und dieses denke, packe ich seinen Unterarm mit meiner Linken, ramme ich meine Rechte mit aller Kraft nach oben, gegen seinen Ellenbogen, und noch weiter - richtig laut knackt es, wie Holz, das bricht,

er schreit auf,

vom Schmerz geblendet, lässt er los,

immer noch hängt dieses Knacken im Raum, über der Musik schwebt es,

ich blicke kurz in dutzende Gesichter,

in leere Augen darin, leer, weil Alkohol, leer, weil auch verblüfft, verblüfft, weil völlig andere Erwartungshaltung,

jetzt: Fluchtimpulse;

jetzt: ich fliege förmlich in Richtung Ausgang;

jetzt: die Schwingtür aufstoßend, stürze ich aus dem Lokal, höre, wie die Glastür krachend und scheppernd hinter mir zurückschwingt;

WEG, NUR WEG! ist mein einziger Gedanke;

jetzt: laufen, rennen, hetzen, was mein Körper hergibt: viel zu langsam;

jetzt: ein Gefühl im Rücken, als ob alle Zuhälter der Welt hinter mir her sind und mich gleich einholen werden;

jetzt: ich laufe meinen Körper und mein Körper läuft mich, schneller, schneller!

Laufen, rennen.

Immer wieder Haken schlagen, abbiegen in Quergassen, mal links, mal rechts.

In einer neuen Quergasse machte ich keuchend halt: Ich lugte um die Ecke: Niemand war hinter mir her, ich war allein.

Heftig keuchend lehnte ich mich an die Mauer, jeder kurze Atemzug brannte wie Feuer in meinen Lungen, entsetzliche Erstickungsangst überkam mich, es dauerte Minuten, bis ich mich beruhigt hatte und wieder genug Luft in die Lungen bekam.

Jetzt erst fiel mir auf, dass ich klitschnass war, dass fast alle Knöpfe an meinem Hemd fehlten, das zerrissen und lose an mir klebte.

Ich lugte erneut um die Ecke: Niemand war zu sehen. Die Gasse war menschenleer und ruhig, der Lärm der großen Straße vorne beim Prater war nur gedämpft zu hören.

Das war echt guter Stoff zum Schreiben, schoss mir durch den Kopf.

Und während ich zum Franzi ging, um ihm von meinem Abenteuer zu erzählen, kreisten meine Gedanken um diese blinde Wut, die in meinem Körper ungeahnte Kräfte mobilisiert hatte. Und plötzlich erinnerte ich mich an ein Erlebnis in der Volksschule, wohl das erste dieser Art: Ich war damals neun oder zehn Jahre alt gewesen, und das Leben war ein einziger Stress: das Zuhause eine ständige Angst vor Schlägen, und in der Schule hänselte mich permanent ein um einen Kopf größerer Schulkamerad. Entweder stellte er mir ein Bein, oder er rempelte mich, oder machte Witze über mich. Und an diesem Tag klopfte er mir von hinten mit einem langen Bleistift auf den Kopf, so hart, dass es kurz ziemlich brutal schmerzte. Im nächsten Augenblick hatte ich auch schon einen Stuhl in der Hand und, völlig überwältigt von einem weißen Licht der Aggression, schlug ich auf ihn ein. Immer wieder. Bis ich wieder nüchtern wurde, bis ich sah, dass der Große ganz klein war und weinte! Ich hatte ihm ziemlich weh getan, aber keine Knochen gebrochen. Mein Vater wurde am Abend vorgeladen, ich lag schon im Bett und fürchtete die Schläge am nächsten Tag, ich konnte nicht einschlafen. Mein Vater kam von der Vorladung zurück, ich hörte, wie er mit meiner Stiefmutter in der Küche über mich sprach und mich lobte: "Der Bub lässt sich nichts gefallen! Der wird noch mal was!"

Richtig stolz schien er auf mich zu sein! Welch eine Erleichterung! Doch am nächsten Tag schlug er mich halbtot! "Aber du hast mich doch gestern Abend gelobt", konnte ich danach nur mehr weinerlich hervorbringen, enttäuscht und völlig verwirrt. "Das musst du geträumt haben", kam schroff von ihm zurück...<



Meine erste Liebe und eine Eruption am Fuße des Vesuvs

Vorgeschichte:

1968, Sommer, Rom. André war zum ersten Mal verliebt, in Lucia. Solange er Geld von sehr gut bezahlten Komparsenjobs hatte, war alles berauschend: den ganzen Tag Sex, Essen in den besten Restaurants, Luxusleben. Doch als sein Geld alle wurde, litt auch die Beziehung zu Lucia enorm, die eben ein Luxusleben führen wollte, das ihr André nicht mehr bieten konnte...


...

>Doch wie groß unsere [Andrés und Lucias] Gegensätze inzwischen wirklich waren, musste ich schmerzlich erfahren, als mir Lucia aus heiterem Himmel mitteilte, dass sie am kommenden Samstag alleine auf die Party eines Filmproduzenten gehen wollte. Meine Welt brach zusammen, Minderwertigkeitskomplexe und Existenzängste waren schlagartig Sieger über mich. Als sie sah, wie sehr sie mich getroffen hatte, änderte sie ihre Meinung. Aus Mitleid! Ich schämte mich in Grund und Boden. Unsere Distanz wurde noch größer, die ich nur kompensieren konnte, indem ich vom Samstag und dem Filmproduzenten träumte, und hoffte, endlich entdeckt zu werden.

Dann endlich war jener Samstag gekommen. Nach Tagen des Wartens und Hoffens und Träumens konnte ich meine Aufregung nur dadurch überwinden, dass ich öfters im Café vis-a-vis Wein trank. Ich wollte ganz cool sein, wenn ich dem Produzenten gegenüberstand. Am frühen Abend brachen wir dann endlich auf, wir fuhren nach Süden, Richtung Neapel. Nach einer Stunde, die von auffallendem Schweigen geprägt war, kamen wir auf eine Straße, die zur Küste führte. Hinter einer Biegung lag urplötzlich unter uns eine malerische Bucht, wie hingezaubert, so dass wir Halt machten und unsere Augen nicht mehr davon loslösen konnten: Ein tiefblaues Meer, in der Ferne der mächtige Vesuv, von der untergehenden Sonne malerisch in Orange bis Blutrot getaucht.

"Wir sind da, da unten ist seine Villa."

Wenig später waren wir am Ziel. Wir hielten vor einer weißen Prunkvilla inmitten von Palmen.

Die Party war schon im Gang, wir hörten Musik und das stete Auf und Ab von Stimmen, unterbrochen von hellem Lachen. Ich war entsetzlich aufgeregt, ein Gedanke quälte mich: Wie sollte ich dem großen Produzenten entgegentreten? Wir gingen hinein, es roch nach tollen Speisen und edlen Parfums. Viele braungebrannte Leute standen locker in Gruppen herum und unterhielten sich. Sie wirkten alle sehr selbstsicher und wohlhabend, sie waren die Reichen, zu denen ich gehören wollte. Ich tat so, als ob ich auch genug Geld hätte. Wir gingen zuerst zum Buffet, belegten unsere Teller und mischten uns dann unter die Leute. Lucia hatte da keine Probleme, jeder dritte, vierte kannte sie. Mir gefiel das überhaupt nicht, denn ich kannte niemanden. Oder fast niemanden. Denn als ich einige Schauspieler von meinen letzten beiden Filmdrehs sah, da war es aus mit meiner aufgesetzten Selbstsicherheit, da schämte ich mich urplötzlich meiner Komparsentätigkeit.

Bald hatte ich Lucia aus den Augen verloren, ich ging abermals zum Buffet, mehr aus Verlegenheit denn aus Hunger, und nahm mir Krabbenfleisch und Reis mit Seefrüchten. Dazu trank ich köstlichen alten Barolo.

Der Wein riss mich aus den Minderwertigkeitsgefühlen, Körperlust und Ausgelassenheit kamen hoch. Auf der Suche nach dem Produzenten stellte ich mich öfters zu Gruppen dazu, wurde aber meist von den Gesprächen ausgeschlossen, indem man mich einfach ignorierte. Aber so erfuhr ich wenigstens, dass der Produzent noch nicht da war. Er war angeblich noch bei Besprechungen für seinen nächsten Film.

Ich begann die Leute zu beobachten. Und mir fiel auf, dass einige gar nicht so selbstsicher waren, und dass viele irgendetwas "hinhielten", entweder ihre Bräune, oder ihren Schmuck, oder ihr Gesicht, oder gleich ihren ganzen Körper.

Ich sah mich nach Lucia um, suchte sie in den diversen Etagen, die alle durch gewundene Marmorstufen miteinander verbunden waren. Denn richtige Türen gab's in diesem Haus fast keine, außer zu den Toiletten und Badezimmern. Immer wieder landete ich auf irgendeinem Balkon mit fantastischem Ausblick auf die pittoreske Bucht mit den vielen beleuchteten Villen und dem am Horizont dunkel thronenden Vesuv.

Und dann sah ich Lucia, sie sprach mit einem jungen Mann, er hatte schönes schwarzes Haar, ein markantes Gesicht mit leuchtenden Augen und vollen Lippen, er strahlte Erfolg aus. Die beiden lachten öfters. Ich fühlte mich plötzlich sehr klein und ausgeschlossen. Ich trank weiter Barolo, um darüber hinweg zu kommen.

Ich stellte mich zu einer lachenden Gruppe, allerdings bekam ich nicht mehr mit, worüber sie eben lachten. Der Erzähler war offenbar ein Schauspieler, der Anekdoten von seinen diversen Filmdrehs zu erzählen schien, was alle sehr amüsant fanden. Besonders ein hagerer weißhaariger Mittfünfziger explodierte öfters mit harter Lache, was wiederum ich lustig fand und darüber ausgiebigst lachte, worauf mich alle anblickten. Der Schauspieler erzählte eine andere Geschichte, die ich fast nicht verstand, wieder lachten alle, wieder lachte der Weißhaarige sehr trocken, wieder lachte ich über ihn, wieder blickten mich alle an, der Weißhaarige etwas missmutig. So ging das ein paarmal, bis mich schließlich der Schauspieler fragte: "Und wer sind Sie?"

"Ich bin auch Schauspieler", sagte ich.

"Dann verstehen Sie ja meine Probleme", erwiderte er.

"Voll und ganz, denn ich hab noch viel größere!" Und schon wollte ich von meinen Problemen erzählen, doch der Weißhaarige fiel mir schroff ins Wort und sagte: "Wir sind alle im gleichen Boot!"

Ich konterte: "Das stimmt nicht ganz: Sie sind alle im gleichen Boot, aber ich schwimme!"

Diesmal platzte der Schauspieler vor Lachen, in das auch die anderen einstimmten, nur der Weißhaarige nicht.

Ich freute mich, diese Reichen zum Lachen gebracht zu haben, irgendwie fühlte ich mich jetzt akzeptiert. Während ich zum Buffet ging, sah ich mich wieder nach Lucia um, konnte sie aber nirgends entdecken. Dafür stach mir eine dreißigjährige attraktive Frau ins Auge, die mich anlächelte. Ich war inzwischen schon vom vielen Barolo ziemlich über den Dingen, ich ging auf sie zu, stark und männlich, jetzt konnte ich Lucia eins auswischen! Wenn sie flirtete, dann konnte ich das auch.

Die Frau saß auf einer Lederbank, ich setzte mich unaufgefordert neben sie, sie lächelte mich an, ich lächelte zurück, sie reichte mir ein halbvolles Cognacglas, ich fühlte mich sehr geehrt und nahm es an, ihr Bein berührte meines, ich zuckte kurz zurück, sie erhöhte den Druck und sagte: "So treffen wir uns wieder!"

Ich wusste nicht, wie dies gemeint war, ob's eine Verwechslung war, eine neuartige Anmache oder nur der Alkohol.

"So treffen wir uns wieder!", sagte auch ich, was hätte ich denn sonst sagen sollen? Die Frau lachte. Ich spürte ihre offene Weiblichkeit. Ich sah die Falten um ihren Mund, fand ihr Gesicht sehr sympathisch und fragte mich, wie sie wohl im Bett war. Sie drückte ihren Schenkel noch stärker gegen meinen. Die geht aber ran, dachte ich und legte meine Hand ganz leicht auf ihren Schenkel. Dass es bei dieser Frau so locker ging, erstaunte und verwirrte mich zugleich. Waren hier alle Frauen so? Wo war der Haken?

"He, du willst doch nicht etwa meine Frau anmachen?", sagte jemand hinter mir. Das also war der Haken. Ich erschrak, und mich umdrehend, hielt ich meine Hände schützend vor's Gesicht, um Schläge abzuwehren. Der hagere Weißhaarige stand vor mir. Ein paar Leute lachten.

"Hat er dich belästigt?", fragte er die Frau. Er blickte streng. Ich hatte nicht nur Angst vor Schlägen, ich empfand auch eine tiefe Scham, weil viele Gäste mich anstarrten und meine unmännliche Angst sehen konnten.

Ich musste ziemlich dumm geschaut haben, denn der Weißhaarige lachte wieder sein kurzes trockenes Lachen, in das auch die Frau einstimmte. Ihr Lachen traf mich tief, das schallende Gelächter der anderen gab mir den Rest. Ich stand auf und ging auf unsicheren Beinen auf den Balkon. Am liebsten hätte ich die Party verlassen. Ich wollte nichts mehr mit den Menschen hinter mir zu tun haben. Ich merkte erst jetzt, dass ich das Cognacglas immer noch in der Hand hielt. Ich leerte es, lehnte mich auf die Brüstung und versuchte, das letzte Geschehnis zu verarbeiten.

Plötzlich spürte ich im Magen ein unangenehmes Druckgefühl. Ich dachte mir, bleib ganz ruhig, es vergeht wieder! Lehn dich nicht so stark auf die Marmorbrüstung. Das Druckgefühl verging aber nicht, in Wellen kam es, immer stärker wurde es. Mit einem Mal fiel mir auf, dass mir kotzübel war. Langsam richtete ich mich auf und sah mich automatisch nach einer Kotzgelegenheit um, aber überall nur weißer Marmor oder teure Teppiche, wo war doch gleich die nächste Toilette? Ein neuerlicher Druck in meinem Magen ließ meinen Blick fieberhaft umherirren: Ich suchte Eimer und Papierkörbe, aber ich sah nur Obstschalen, Snackteller und Handtaschen. Es war fast nicht mehr auszuhalten. Gab es denn nirgends Abfalleimer? Langsam ging ich durch den mit Menschen überfüllten Raum, vorsichtig, wie auf rohen Eiern, um ja nicht den Magen durch eine Erschütterung zu überreizen. Aber dann war es schon zu spät: Mein Magen explodierte, eine dicke rote Fontäne schoss aus meinem Mund, mitten unter die Leute. Immer wieder explodierte ich. Bruchstückhaft sah ich Leute vor mir flüchten, sah ich meine rote Kotze auf dem weißen Marmorboden, mit dem hellen Reis dazwischen. Sah ich erschrockene Gesichter, die auf ihre angekotzten Anzüge oder Kleider hinunterblickten. Sah ich fassungslose Blicke. Hörte ich die ersten Schimpfkanonaden. Dann ein Filmriss. Ich wachte auf, im schneeweißen Klo, mit Armen und Händen an der schneeweißen Klomuschel hängend, in die rote Kotze darin starrend, kurz überlegend, was ich hier tat. Dann stand der Weißhaarige neben mir, in der Hand ein Glas sprudelndes Selters. Nach dem ersten Schluck wusste ich wieder, warum ich hier war: "Ist der Produzent schon hier?", wollte ich laut lallend wissen. Hinter dem Weißhaarigen erkannte ich eine wütende Lucia. Irgendwer half mir auf die Beine, die mir den Dienst versagten. Irgendwer brachte mich aus dem Haus. Es war Lucia. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie furchtbar nett fand, aber es kam nur ein Lallen aus meiner Kehle. Immer wieder versuchte ich einen vernünftigen Satz, doch die Sprechmuskeln versagten mir einfach den Dienst. Ich konnte nur noch lallen, was mir sehr gefiel. Denn ganze Gedankengebäude konnte ich damit ausdrücken. Und so lallte ich noch einige Zeit vor mich hin.

Lucia schwieg während der Fahrt nach Rom.

Schweigend parkte sie vor ihrem Haus ein, schweigend ging sie nach oben in ihre Wohnung, ich hinter ihr her torkelnd. Schweigend nahm sie meine Sachen und warf sie auf den Gang, dann schob sie mich aus der Wohnung und knallte die Tür zu. Es hallte im ganzen Haus, es klang so endgültig. Ich stand im Vollrausch da, betrachtete meine wenigen Habseligkeiten, ohne sie wirklich zu sehen und fragte mich immer wieder, wo ich hier war und was ich hier eigentlich wollte. Ich versackte in einem dunklen Schlund des Vergessens, in einem schwarzen Loch der völligen Abtrennung von der Außenwelt, aus dem mich ab und zu Schuhgeklapper im Stiegenhaus herausholte. Irgendwann wurde das schwarze Loch zu einem grauen, irgendwann glotzte ich nur so herum, irgendwann blickte ich auf die Uhr: Es war neun Uhr vormittags. Ich hob die paar Klamotten vom Boden auf und ging. Es fühlte sich so endgültig an, wie ein Schlussstrich.<



Eine Lesung aus dem Kapitel Eine Eruption am Fuße des Vesuvs:

https://youtu.be/gJ99X2ugb3k


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